Descriere
Johann Sebastian Bachs Auseinandersetzung mit der modernsten und beliebtesten Instrumentalform seiner Zeit, dem Concerto italienischer Provenienz und Prägung, läßt sich bis in die Anfänge seines Wirkens als Konzertmeister am Hofe zu Weimar zurückverfolgen. Die Zahl der von ihm komponierten Konzerte ist allerdings heute nicht einmal annäherungsweise zu bestimmen: Zu groß sind die Verluste an einschlägigen Quellen, zu ungenau die Aussagen der biographischen und werkgeschichtlichen Dokumente. Die handschriftliche Überlieferung reicht – abgesehen von der 1721 angefertigten berühmten Widmungspartitur der Sechs Brandenburgischen Konzerte – im wesentlichen nur bis in die Leipziger Zeit ab 1723 zurück. Mit der Frage, in welchem Maß Bachs „Leipziger” Konzerte, vor allem die Konzerte für ein bis drei Cembali, auf verlorene Werke der Weimarer und Köthener Zeit (1708-1717 bzw. 1717-1723) zurückgehen, beschäftigen Wissenschaft und Praxis sich seit langem. Versuche zur Wiederherstellung verschollener Originale sind – mit unterschiedlichem Authentizitätsanspruch und mit wechselndem Erfolg – seit dem Ende des 19. Jahrhunderts vielfach unternommen worden. Der Ertrag solcher Bemühungen hängt einerseits davon ab, inwieweit Bachs Leipziger Cembalokonzerte und Kantatenvorspiele die entsprechenden Urbilder durchschimmern lasseh, und andererseits von dem Grad, in dem Bachs Bearbeitungseingriffe sich als solche erkennen und systematisch rückgängig machen lassen.
An Konzerten für zwei und drei Cembali sind insgesamt fünf erhalten, doch nur für zwei von ihnen sind auch die Vorlagen bzw. Originalfassungen bekannt. Eines der Konzerte für zwei Cembali (c-moll, BWV 1060) läßt sich mit einiger Sicherheit auf ein Konzert für Violine und Oboe zurückführen. Umfang und Behandlung der beiden Soloinstrumente lassen über deren Besetzung keinen Zweifel; andererseits geht die Differenzierung nicht so weit, daß man sie als die wesentlichste Dimension des musikalischen Geschehens ansehen müßte.
Gewisse violinistische Figurationen, die schon im ersten Solo des Eingangssatzes auftauchen, werden in dessen weiterem Verlauf der Oboe erspart, wie auch in zwei umfangreicheren Soli des Schlußsatzes allein die Violine sich zur Sextolenbewegung aufschwingt. Im übrigen aber sind beide Soloinstrumente gleichartig und gleichberechtigt behandelt, ja überwiegend geradezu aneinandergekettet, tragen auch die straffen Ritor-nellthemen der beiden schnellen Sätze bei deren erstem Auftreten stets unisono vor. Daß die einander eng umschlingenden Melodiegirlanden im Adagio, über einer unaufdringlichen Baßlinie und getupften Streicherakkorden dahinschwebend, das Modell eines Trios für zwei gleiche Melodieinstrumente und Generalbaß durchscheinen lassen, erweist sich so nur als folgerichtig. Wesentlicher als Klang und Spieltechnik der Soloinstrumente sind in der Tat andere Vorgänge in diesem Konzert: Im Mittelsatz etwa im letzten Drittel eine mit dem Einsetzen von Streicherakkorden beginnende Episode von geradezu dramatischer Zuspitzung, in den schnellen Sätzen die Vielfalt in der Verarbeitung der Themensubstanz, die den klaren Tutti-Solo-Wechsel italienischer Provenienz häufig durch eine enge Verzahnung ersetzt und damit hinsichtlich der Entwicklung der Konzertform eine Richtung einschlägt, „die vom italienischen Blickpunkt aus als Verunklarung, wenn nicht Zersetzung, vom deutschen aus als Verdichtung und Vertiefung erscheinen mag” (R. Eller, 1956).
Kompositionen von der Art des wiedergewonnenen Konzerts für Violine und Oboe werden üblicherweise in jenem Jahrfünft angesiedelt, in dem Johann Sebastian Bach als Kapellmeister am Hofe zu Anhalt-Köthen die wirklich oder vermeintlich glücklichste Zeit seiner musikalischen Laufbahn zubrachte. Ob mit einer solchen chronologischen Einordnung in jedem Falle der Stein der Weisen gefunden ist, steht dahin. Gleiches gilt für die Einordnung der Version für zwei Cembali und Streicher in das Schaffen des Leipziger Thomaskantors. Die RückÜbertragung für Violine und Oboe geht von der Annahme aus, daß Bachs Bearbeitungsverfahren ein verhältnismäßig „mechanisches” war, bei dem die Oberstimme je eines Cembalos den Solopart von Violine bzw. Oboe im wesentlichen unverändert übernahm und die neu hinzutretenden Unterstimmen der Cembali sich eng an den Part des Basso continuo anlehnten. Da ein aufschlußgebendes Autograph der Cembalofassung jedoch nicht existiert, ist eine Bestätigung jener Prämisse nicht möglich und der Versuch, aus dem hypothetisch erschlossenen Bearbeitungsverfahren Anhaltspunkte zur Chronologie zu gewinnen, würde in einem Zirkelschluß enden.
Im Vergleich hierzu sieht die Situation bei dem Cembalokonzert A-dur (BWV 1055) wesentlich günstiger aus. Autographe Partitur und Originalstimmen lassen erkennen, daß Bach dieses Konzert Ende der 1730er Jahre als Umarbeitung eines verschollenen Werkes geschaffen hat. Bachs eigenhändiger Niederschrift läßt sich zuverlässig entnehmen, daß die verlorene Vorlage ebenfalls in A-dur gestanden hat und daß deren Soloinstrument – in für die Zeit eigentlich untypischer Weise -das Eingangsritornell des ersten Satzes nicht mitspielte. Aus diesen und anderen Beobachtungen sowie dem Tonumfang des ursprünglichen Soloinstruments ergibt sich, daß das Konzert zuerst für Oboe d’amore bestimmt war. Nach Johann Gottfried Walthers Musiklexikon (Leipzig 1732) soll das Instrument um 1720 aufgekommen sein, und in der Tat ist es 1721/22 bei Gottfried Heinrich Stölzel in Gotha nachweisbar, 1722 bei Johann Friedrich Fasch in Zerbst und Georg Philipp Telemann in Hamburg und vom Februar 1723 an in Bachs Leipziger Vokalwerken. Inventare der Köthener Hofkapelle nennen gleichfalls zwei „Oboe d’Amour”, doch stammen diese Nachweise erst aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und verraten nicht, ob die Instrumente schon vor 1723 in Köthen vorhanden waren und von Bach herangezogen werden konnten. Immerhin ist noch heute eine in Leipzig hergestellte Oboe d’amore erhalten, die das Datum 1719 aufweist, und ein weiterer Beleg”reicht sogar bis 1717 zurück. Merkwürdigerweise bezog jedoch der Gothaer Hof zwei solche Instrumente Anfang der 1720er Jahre aus Schleiz, der „Hoch-Gräfl. Reuß-Plauischen” Residenz. Ebendieser Stadt aber stattete Johann Sebastian Bach im August 1721 einen Besuch ab, vielleicht um die Möglichkeit einer Anstellung am Hofe zu erkunden, und es erscheint keineswegs ausgeschlossen, daß er sein Konzert A-dur für Oboe d’amore in diesem Zusammenhang komponiert hat. Eine – relativ gesehen – so frühe Entstehung könnte manche Eigenart des Werkes erklären, etwa die naive Freude, mit der im ersten Solo des Eingangssatzes zuallererst die der normalen Oboe nicht erreichbare tiefe Lage vorgestellt wird, dann die streckenweise nicht eben idiomatische Behandlung des Instruments, die nicht immer glückliche klangliche Balance, die oft: pausenlose Beanspruchung. Dies alles wäre am bequemsten als Ergebnis einer Anfangssituation zu deuten. Recht gut mit der angenommenen Datierung zusammenstimmen würde die Beobachtung, daß das A-dur-Konzert auch eines der „modernsten” Konzerte Johann Sebastian Bachs ist, speziell In Hinsicht auf den.regelmäßigen Aufbau des ersten Satzes aus Einheiten von 2,4 und 8 Takten, ein Verfahren, das auf spätere Jahrzehnte vorausweist.
Kompliziert erscheint die Situation bei dem Cembalo-konzertd-moll (BWV 1052). Auch hier liegt Bachs eigenhändige Version vom Ende der 1730er Jahre vor, außerdem aber eine spätestens 1734 anzusetzende Cembalokonzertfassung des Zweitältesten Bach-Sohnes Carl Philipp Emanuel und außerdem Bearbeitungen einzelner Sätze für konzertierende Orgel, Oboen und Streicher zwecks Einbeziehung in zwei Kirchenkantaten der 1720er Jahre. Hieraus ist eine gewisse Beliebtheit und Bevorzugung der verschollenen Urgestalt zu ersehen, offensichtlich eines Violinkonzerts, dessen älteste Gestalt sich freilich nicht in allen Details wiederherstellen läßt. In den schnellen Sätzen mag die Begleitung des Soloinstruments anfangs nur dreistimmig (ohne 2. Violine) angelegt gewesen sein. Bei späterer Überarbeitung hat Bach offenbar eine Erweiterung in Richtung auf die „normale” Besetzung vorgenommen, sorgfältig, wenngleich nicht ganz einheitlich im Eingangssatz, eher nachlässig im Schlußsatz. Der langsame Mittelsatz – Variationen über einen ostinaten Baß voll pathetischer Gestik – ist hinsichtlich der Stimmenzahl von vornherein anders angelegt und dürfte daher dem Konzert nicht ursprünglich angehört haben. Wann und wo dieses Konzert in seiner ersten und vielleicht zweiten Violinfassung komponiert sein könnte, läßt sich schwer sagen, denn beispielsweise für das raumgreifende dämonische Kopfthema des ersten Satzes sucht man in der Zeit und auch in Bachs eigenem Werk vergebens nach einem Seitenstück. Bestimmte violinistische Effekte scheinen auf Antonio Vivaldi als ein mögliches Vorbild zu deuten, anderes weist auf einen Zusammenhang mit Bachs Sonaten und Partiten für Violine solo. Diese sind vor 1720 komponiert, entziehen sich jedoch einer exakteren Datierung. So muß auch von dieser Seite her manches im Blick auf das d-moll-Könzert offenbleiben, ein Konzert, das sich wie nur wenige als ebenso musikalisch eindrucksvoll wie entstehungsgeschichtlich rätselhaft erweist.
Hans-Joachim Schulze (1987)
Für den Interpreten sind von der Musikwissenschaft aufgeworfene Fragen stets mit eigenen, die musikalische Umsetzung unmittelbar betreffenden Entscheidungen verbunden. Muß er doch, einmal überzeugt von der Stichhaltigkeit der Argumente, den klingenden Beweis für Thesen und Hypothesen anbieten. Es ist ein reizvolles Unterfangen, das oft genug zum Abenteuer wird und einerseits mit stilistischer Kenntnis und Erfahrung, andererseits aber nur mit Sorgfalt und Zurückhaltung in Angriff genommen werden kann. Keinesfalls darf einer lediglich wissenschaftlich verbrämten virtuosen Eitelkeit Vorschub geleistet werden. Es müssen vielmehr nach heutigen Erkenntnissen die mögliche Entstehungszeit des Werkes, das Verhältnis einzelner Sätze zu ihren überlieferten Versionen, seien sie nun Teile von Kantaten oder Cembalokonzerten, mit den besonderen instrumentalen Anforderungen der Solostimmen in Einklang gebracht werden.
Die Konzerte BWV 1055 und BWV 1060 sind hier in der Gestalt realisiert worden, wie sie Wilfried Fischer in seinem Band „Verschollene Solokonzerte in Rekonstruktionen” der NBA veröffentlichte. Für die Einspielung des Violinkonzerts d-moll BWV 1052 erschien es uns allerdings nötig, nochmals Recherchen anzustellen. Hierzu fanden wir wichtige Anregungen in einem Aufsatz von Werner Breig aus dem Bachjahrbuch 1976. Er stellte zur Rekonstruktion Wilfried Fischers fest: „Trotzdem scheint es, als seien in NBA für eine Reihe von Stellen die Möglichkeiten, zu einem sicheren Text des Violinkonzerts zu gelangen, noch nicht voll ausgeschöpft.” Breig diskutiert die Solostimme betreffend vor allem zwei Fragen: die der Oktavlage und die eventueller Doppelgriffe – Probleme, „die sich aus der Transkription einer Violinstimme für das Cembalo unmittelbar ergeben”. Nimmt man an, daß der Spitzenton des Violinkonzertes offenbar a'” war, so erfordert die obere Grenze des Cembalos (d'”) die Umlegung einer Reihe von Passagen in die tiefere Oktave mit den unvermeidlichen Brüchen der melodischen Struktur. In der Fassung dieses Konzertes für Orgel (s. 1. Platte der rekonstruierten Solokonzerte) aus den Kantaten 146/1-2 und 188 notierte Bach die Oberstimme eine Oktave tiefer. Das deutet auf eine 4-Fuß-Registrierung hin und löst das Problem des Umfangs der Solostimme auf der beschränkten Klaviatur. Wir schlossen uns also Breigs Folgerung an, daß die Oktavlage der Solovioline für die ersten beiden Sätze aus der Orgelstimme von BWV 146 sicher zu erkennen sei, weil hier keine Notwendigkeit zu Änderungen gegeben war. Auch im dritten Satz – hier ist die Sinfonie zur Kantate 188 nur fragmentarisch überliefert – übernahmen wir Breigs Vorschläge. Problematischer für die praktische Ausführung sind die Doppelgriffe in der Solostimme. Hier scheint die größte Diskrepanz zu einem als ursprünglich angenommenen Violinkonzert zu bestehen. Gewiß sind sie irgendwie spielbar, aber ihre klangliche Realisierung läßt im Tempo des ersten Satzes -Virtuosität des Solisten einmal vorausgesetzt – erhebliche Wünsche offen. Wir entschlossen uns deshalb, den Vorschlag des ehemaligen Weimarer Konzertmeisters Robert Reitz anzunehmen. Er übertrug die jeweils untere Stimme der Terzen und Sexten des Klavierparts der 2. bzw. 1. Ripienoyioline, die wir aus Gründen der klanglichen Balance allerdings solistisch besetzten. Gleichfalls folgten wir Reitz in der geigerischen Umsetzung einiger Spielfiguren des dritten Satzes. Die erwähnte Kantatenquelle BWV 188 enthält immerhin Takt 265-280, einen lötaktigen Kadenzabschnitt, „dessen Satzart einem Violin-arpeggio auffällig nahekommt” (Breig). Wir haben auch ihn, den Möglichkeiten der Violine angepaßt, übernommen.
Max Pommer (1987)
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